Dienstag, 23. Mai 2017

Aussteigen

Es war schon ihre dritte Runde. Gerade tauchte die Station Westhafen in ihrem Blickfeld auf. Die Bahn wurde langsamer, hielt und mit einem Zischen öffneten sich die Türen. Sie saß immer noch am Fenster, und beobachtete die Menschen, wie sie in die S-Bahn einstiegen, ausstiegen oder auf den Bahnsteigen herum standen. Alle waren auf dem Weg irgendwohin. Auch sie war bisher immer auf dem Weg irgendwohin gewesen, wenn sie mit der Bahn unterwegs war. Sie erinnerte sich, dass sie manches Mal, wenn sie im Zug auf Reisen war, sich gewünscht hatte, einfach weiterzufahren, nie mehr auszusteigen und ohne Ziel und ohne Halt einfach nur zu fahren und die Welt an sich vorbeiziehen zu lassen. Doch immer war sie ausgestiegen, weil es etwas zu tun gab, weil irgendjemand etwas von ihr wollte.

Sie war den Vorschlägen ihrer Eltern gefolgt und hatte eine kaufmännische Ausbildung in einem metallverarbeitenden Betrieb gemacht und war sogar direkt übernommen worden, weil sie zuverlässig ihre Arbeit erledigte. Das Ende ihrer Ausbildung war einige Jahre her und sie saß immer noch, mit dem Rücken zum Fenster, an ihrem Schreibtisch. Darauf stand ein einsamer Kaktus, der kaum gewachsen war, seitdem ein Kollege ihn ihr geschenkt hatte, weil er ihn selbst nicht mehr haben wollte.
Die Station Messe-West tauchte auf, sie konnte einen Teil des tristen, grauen Messegebäudes sehen, das wie ein monströser Klotz an einer viel befahrenen Kreuzung hockte und wenn sie den Kopf nach rechts drehte, konnte sie den Stau auf der Stadtautobahn beobachten. Der Zug hielt, einige stiegen ein, andere aus, und dann ging es wieder weiter.
Diesen Teil der Stadt kannte sie kaum. Sie war im Ostteil von Berlin aufgewachsen, und hatte aus der Zeit auch noch einige Freunde behalten, die ebenfalls in Berlin geblieben waren. Mit den anderen, die weg gezogen waren, hatte sie keinen Kontakt mehr. Sie selbst hätte gar nicht gewusst, wo sie hätte hingehen sollen und so hatte sie ihre Heimatstadt nie verlassen. Sie mochte Berlin, blieb aber meistens in ihrem Kiez, ging ihrer Arbeit nach und wenn sie nach Hause kam, kochte sie sich etwas, putzte ein wenig und las Romane oder ging ab und an mit Freunden ins Kino. Die Tage unterschieden sich kaum voneinander.
Doch heute war alles anders gekommen. Wie üblich hatte sie in einem Fantasy-Roman gelesen, um sich auf der langen Fahrt nicht zu langweilen. Und sie war so vertieft in die Geschichte der Hauptfigur Gwyneth, die auf ihrer Suche nach einem Heilstein viele Herausforderungen zu meistern hatte, dass sie ihre Bahnstation quasi überlesen hatte. Erst hatte sie sich über ihre Verträumtheit geärgert und ungeduldig auf die nächste Haltestelle gewartet. Doch als die nächste Station sich näherte, war sie sitzen geblieben. Und auch an der übernächsten war sie nicht ausgestiegen. Sie wusste selbst nicht, was sie dazu bewogen hatte, nicht einfach zurück zu fahren. Nicht wie immer an der gleichen Bahnstation auszusteigen, die Treppen herunter zugehen, die Straße zu überqueren und in den unpersönlichen Neubau ihrer Firma zu gehen und sich an ihren Schreibtisch zu setzen. Und doch war sie einfach sitzen geblieben. Eine Station kam und ging nach der anderen und sie, sie rührte sich einfach nicht vom Fleck und blickte aus dem Fenster, unbeeindruckt von all den anderen Fahrgästen, die neben ihr Platz nahmen und ihn später wieder freimachten. 

Die Sonne, die am Anfang des Tages noch milde geschienen hatte, hatte mittlerweile mehr Kraft gewonnen und es wurde wärmer in der Bahn. Sie zog ihre braune Jeans-Jacke aus und legte sie neben sich. Und schaute wieder aus dem Fenster. Straße um Straße, Kiez um Kiez zog an ihrem Fenster vorbei und sie fragte sich, ob sie bei der Arbeit wohl jemand vermissen würde? Machte es überhaupt einen Unterschied, ob sie da war oder nicht? Hier in der Bahn gab es niemanden, der sie wahrgenommen hatte. Bei der Arbeit würden sie sich sicherlich Gedanken machen, das war noch nie vorgekommen, dass sie einfach nicht erschien und sich nicht abmeldete. Doch das war ihr heute egal. Es war ihr sogar komplett egal, stellte sie mit Erstaunen fest. Ja, eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, dort jemals wieder hinzugehen. Sie atmete tief aus. Sie spürte, wie ihr Körper weiter wurde und weicher.

Was würde passieren, wenn sie alles hinter sich ließe? Würden ihre Freunde sie vermissen? Würde sie ihre Freunde vermissen? Sie wusste es nicht. Doch wenn sie ehrlich zu sich war, war klar, dass sie ihr nicht wirklich wichtig waren. Sie bekam ein wenig Angst, was war nur los mit ihr, dass sie auf einmal alles in Frage stellte? All das, was ihre Tage bisher gefüllt hatte, verlor mit jeder Runde mehr an Wichtigkeit, verkam zu einer alten Erinnerung und machte Platz für eine Leere in ihr, die ihr fremd war.

Sie kam wieder an dem alten Flughafen Tempelhof vorbei, der zu einem großen Feld voller Freiheit und unzähliger Möglichkeiten umgestaltet worden war. Menschen gingen dort mit Hunden spazieren, Radfahrer fuhren die Asphaltwege entlang, auf denen früher die Flugzeuge gestartet waren, um in die weite Welt zu fliegen. Sie selbst war noch nie geflogen, zog es vor, still im Zug zu sitzen und die Landschaften an sich vorbeiziehen zu lassen. Doch als sie in diesem Moment auf das ehemalige Flughafengebäude sah, spürte sie ein leises Ziehen im Bauch. Wie es wohl wäre, einfach irgendwohin zu fahren und ganz neu anzufangen? In einer anderen Stadt, oder gar in einem anderen Land, wo sie niemanden kannte? Und wo niemand Erwartungen an sie hätte? Wer würde sie werden können, wenn sie ihre Geschichte neu schreiben könnte?

Einige Stationen später taucht die Haltestelle Sonnenallee auf. Mitten in Neukölln, einem bunten, lebhaften Kiez, der geprägt ist von Menschen, von denen die meisten nicht viel Geld haben. An dieser Haltestelle betritt ein junger Mann mit langen Haaren, Bart und Rucksack den Zug und fängt an, die Fahrgäste zu begrüßen, schon während der Zug wieder Fahrt aufnimmt. Wie immer, wenn Bettler die Bahn betreten, wendet sie sich ab und schaut nach draußen um zu vermeiden, dass sie angesprochen wird. Auf einmal hört sie, dass das keine der üblichen Bitten um eine kleine Spende für eine Unterkunft oder etwas zu essen ist, sondern dass dieser Mann eine besondere Geschichte hat. Mit einem englischen Akzent erzählt er, dass er seit Jahren schon die Welt bereist. Und jetzt Geld sammelt, um nun nach Hause zu seiner Freundin zu fliegen. Er will si e heiraten, denn sie sei nach Jahren des Wartens nun langsam etwas ungeduldig, fügt er mit einem Lächeln hinzu. Sie spürt wieder ein Ziehen im Magen und in ihren Beinen kribbelt es auf einmal. Sie wirft einen kurzen Blick zu ihm hinüber, schaut wieder weg, durch das Fenster hinaus. Am Himmel sieht sie ein Flugzeug entlanggleiten. Ihr Herz schlägt schneller: Jetzt oder nie, denkt sie sich, greift ihre Jacke, steht auf und verlässt die Bahn, bevor die Türen sich mit einem lauten Zischen wieder schließen.

Draußen weht ein leichter Wind um ihre Nase, türkische Jugendliche hören mit ihrem Handy laute orientalische Musik, zwei ältere Damen unterhalten sich über einen Film „schultze gets the blues“, den sie am Abend vorher im Kino angeschaut haben. Fahrgäste eilen die Treppen herunter, und nach einem Blick auf die Uhr folgt sie ihnen, denn ihr Magen hat vernehmlich geknurrt. Sie geht die Treppen hinunter, und läuft dann einfach die Straße entlang. Viele Altbauten sind dort an der Sonnenallee, die meisten sind grau und wurden schon lange nicht mehr renoviert. Auf der vierspurigen Straße, die in der Mitte von einem hochbewachsenen Grasstreifen geteilt wird, fahren viele Autos entlang. Auf den Bürgersteigen drängeln sich die Menschen, vorbei an Falafel-Imbissbuden, Handygeschäften, Kiosken und Ein-Euro-Shops. 

Sie lässt sich treiben, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich geht. Aus einer Tür riecht es auf einmal nach frischem Brot und sie geht hinein, um ihren Hunger zu stillen. Drinnen kann sie sich kaum entscheiden, weil die Auswahl so groß ist, doch dann zeigt sie mit dem Finger einfach auf irgendwelche kleinen Gebäckteilchen und nimmt gleich drei Stück davon mit. Vor der Bäckerei bleibt sie stehen und greift in die Tüte hinein und holt das erste heraus. Es trieft vor Honig, der im Sonnenlicht fast zu strahlen scheint, und sie beißt genüsslich hinein. Spürt, wie der Blätterteig leise knisternd zerbricht, bevor ihre Zähne die darin enthaltenen Nusssplitter zerkleinern und der süss-nussige Geschmack sich auf ihrer Zunge verbreitet. Der Honig läuft ihr am Zeigefinger entlang und bei dem Versuch, sich einen Krümel auf dem Mundwinkel zu wischen, verschmiert sie sich auch noch etwas Honig im Gesicht. Jetzt ist ihr alles egal, sie greift beherzt in die Tüte und verschlingt die beiden restlichen Teilchen nacheinander, ohne darauf zu achten, wohin der Honig fließt. Sie wischt sich die noch vorhandenen Krümel aus dem Gesicht und geht zurück in die Bäckerei. „Könnten Sie mir vielleicht eine feuchte Serviette geben, ich habe etwas gekleckert“ lächelt sie den Verkäufer mit dem runden Bauch und dem grau-schwarzen Bartstoppeln an. Er lächelt zurück, geht an ein Waschbecken, befeuchtet ein Tuch und reicht es ihr über den Tresen. Sie wischt sich mit dem kühlen Lappen über ihr Gesicht und entfernt die klebrigen Reste des köstlichen Gebäcks.
Mit einem „Danke“ geht sie wieder hinaus auf den Bürgersteig. Dort setzt sie sich auf den Fenstersims der Bäckerei und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Die Wärme färbt ihre Haut zart rot, während sie genüsslich dem Geschmack auf ihrer Zunge nachschmeckt. Und auf einmal erinnert sie sich an die Nachmittage mit ihrer Großmutter, als sie mit ihr leckere Kuchen gebacken hat, und knusprige Kekse mit bunten Verzierungen. Der Geruch von warmer Butter und Zucker steigt ihr in die Nase, als würde sie wie damals auf dem Stuhl stehen, in der Schüssel rühren und mit Hilfe ihrer Großmama einen Kuchen backen. Es war schon lange her, aber sie erinnerte sich mit einem wohligen Seufzen daran, wie sehr sie diese Nachmittage genossen hatte. Seitdem die Großmutter gestorben war, hatte sie nie wieder gebacken.

Ganz plötzlich bekommt sie den Impuls, im Büro anzurufen. Sie holt ihr Handy aus der Tasche und ruft ihre Kollegin an. „ Ich bin es, ich wollte mich melden. Es ist mir nichts passiert, es geht mir gut.“ Sie hört ein paar Sekunden zu, was ihre Kollegin sagt und antwortet dann: „Tut mir leid, aber heute ist alles anders gekommen. Ich komme heute nicht mehr ins Büro.“ Sie packt das Handy zurück, steht auf, streckt sich und geht in die Bäckerei zurück und sagt zu dem Mann hinter dem Tresen: Hallo, mein Name ist Lisa. Können Sie mir beibringen, wie man diese Teilchen bäckt?

(Meine allererste Kurzgeschichte, geschrieben für die Lesebühne So noch nie am 22. Mai 2017)


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