Mittwoch, 5. Mai 2021

Der Gesang der Corona

Coroonaaa, so schallt es aus dem Wald hinaus. Corona? Frage ich mich, wer ruft denn das? Und warum? Oder war es gar nicht Corona, sondern Corinna? Ich setze mich auf einen Baumstumpf und lausche. Aber ich höre nichts mehr, nur das Rauschen des Windes und ab und an eine Krähe, die auf einem Baum sitzt und krächzt, als wollte sie mir etwas mitteilen.

Ich warte noch ein paar Minuten doch ich höre nichts mehr. Gerade als ich aufstehen will, um meinen Spaziergang fortzusetzen, höre ich es wieder: Corooonaaaa! Es klingt als würde ein Teenager es rufen, ein Mädchen, und es klingt wie ein Lockruf. Aber Corona? Ich schüttele unbewusst meinen Kopf, ich verstehe es einfach nicht. Meine Neugier ist geweckt. Ich laufe am Feldrand entlang bis zum Wald, der am Rand sehr licht erscheint, doch ich weiß, dass es im Wald dichter werden wird. Dort gibt es Fichten, die so eng aneinander stehen, dass man kaum zwischen ihnen hindurchkommt, und wo auf dem Boden nur heruntergefallene Nadeln zu finden sind. Denn in der Dunkelheit dort wächst nichts anderes mehr.

Es knackt und knirscht, während ich mir einen Weg zwischen den Buchen suche. Normalerweise bin ich sehr leise unterwegs, wenn ich im Wald bin. Aber jetzt achte ich nicht darauf, denn die Tiere sind durch die Rufe vermutlich so alarmiert, dass mein Geraschel jetzt auch keinen Unterschied mehr macht.

Ich halte inne. Wo war der Ruf hergekommen? Vorne? Rechts? Links? Es ist nicht zu hören und so laufe ich einfach in die Richtung weiter, die ich bereits eingeschlagen habe. Halloo? Ist da jemand, rufe ich. Und ja, ich erhalte tatsächlich eine Antwort. Coronaa! Schallt es mir entgegen.

Ich stapfe weiter durch das Gehölz, schiebe Äste beiseite, damit sie mir nicht ins Gesicht hängen und versuche die Richtung beizubehalten.

Auf einmal ist da eine Lichtung vor mir. Es ist keine natürliche Lichtung, es stehen sehr viele Baumstümpfe herum, auf dem Boden liegen viele abgeschnittene Äste. Vereinzelt stehen abgestorbene Bäume, deren hell graue Rinde mich an Asche erinnert. Was ist hier nur passiert? Warum wurden diese ganzen Bäume abgeholzt? Der hellblaue Himmel, der jetzt endlich wieder zu sehen ist, verschärft die Tristesse der Lichtung. Vermutlich war es nur ein Waldteil, der dazu gedacht war, Holz zu produzieren, aber mir kommt es vor, als hätte hier ein Riese sinnlos herumgewütet.

Ob an diesem Ort, der jetzt in hellem Tageslicht liegt, wieder etwas wächst? Ich schaue auf den Boden. Nichts. Nur trockenes, graues Holz. Ich gehe ein paar Schritte hierhin, ein paar Schritte dorthin. 

Und schon wieder höre ich den Ruf Coroonaaaa! Er scheint vom anderen Rand der Lichtung zu kommen und ich fange an, etwas schneller zu gehen, über äste zu springen und weiche dem aufgewühlten Boden auf, den ein paar hungrige Wildschweine hinterlassen haben.

Auf einmal sehe ich ein Mädchen, es sitzt auf einem Baumstumpf. Ich bleibe verdutzt stehen. Sie hat langes blondes Haar, das in der Sonne sanft schimmert. Sie streicht mit ihren Händen hindurch, als wollte sie es bürsten. Ihr Haar ist lang und glatt und reiht ihr fast bis zur Hüfte. Ich gehe weiter auf sie zu. Langsam. Als ich näher komme, sehe ich den weiten weißen Umhang, der ihren Körper umfließt. Corooonaaaa! Höre ich wieder und ja, ich sehe, wie das Mädchen ihren Mund bewegt, als das Wort sich über die Lichtung schwingt. Sie ist tatsächlich diejenige, die ich gehört habe.

Hey, sage ich, als ich vor ihr stehe. Ich habe Dich gehört und bin Deinem Ruf gefolgt. Sie schaut mich an mit großen blauen Augen und nickt nur, bevor sie wieder Coroonaa ruft. Warum machst du das, frage ich sie, doch sie ruft einfach immer nur wieder und wieder das eine Wort. Mal spricht sie es leiser, mal lauter, mal langsamer, mal schneller. Es klingt bald kaum noch wie ein Wort, sondern es entwickelt sich eine Melodie, und immer mehr klingt es wie ein Gesang. Ich bin etwas erschöpft und setze mich auf den Boden und lehne mich an den Baumstumpf, auf dem sie sitzt.

Ihr Gesang hat etwas beruhigendes, und er lässt in meinem Kopf keinen Platz mehr für irgendwelche Gedanken. Es tut einfach nur gut, diesem Gesang zu lauschen. Meine Schultern sinken nach unten, mein Kiefer lockert sich. Das Mädchen singt einfach weiter, beachtet mich nicht und doch weiß ich, dass sie mich sehr wohl wahrnimmt. In manchen Momenten scheint es mir sogar, als würde sie nur für mich singen, doch immer wieder schickt sie ihre Melodie in den Wald.

Ich höre in der Ferne einen Ast knacken und ich weiß, da hat noch jemand den Ruf gehört. Und noch ein Knacken, aus einer anderen Richtung. Auf der einen Seite kommt eine ältere Frau mit einem Korb in der Hand auf die Lichtung, auf der anderen Seite kommen zwei Jäger, die ihre Gewehre über der Schulter hängen haben. Sie kommen näher, fragen nichts, sagen nichts, sondern lassen sich einfach bei uns nieder. Es kommen immer mehr Menschen, alte, junge, Männer, Frauen und sie alle setzen sich schweigend dazu. Und lauschen. Diesem Gesang, diesem Ruf, der immer kraftvoller zu werden scheint, je mehr Menschen den Weg zu diesem Platz gefunden haben. Doch er wird keineswegs bedrohlich, aber er wirkt, als stünde hinter der  Sanftheit eine riesige Kraft, die es jedoch gar nicht nötig hat, sich zu zeigen oder gar beweisen zu müssen. Es ist klar, dass sie da ist. Und das spüren alle, die hier sind, das kann ich sehen. Einige haben die Augen geschlossen, die meisten haben sie offen, aber sie schauen nicht auf der Lichtung umher, sondern ihre Aufmerksamkeit ist nach innen gelenkt.

Der Gesang füllt mittlerweile die gesamte Lichtung. Wie ein Wind umbraust er das alte Gehölz, dreht seine Kreise, bringt die Bäume am Rand zum Erzittern und umfasst uns alle in seiner Macht. Er fängt an zu vibrieren, und ganz sacht erst, dann aber immer mehr erfasst uns alle dieser Ton.  so schwingen wir uns alle in diesen Gesang ein. Es ist als würden unsere Haare, unsere Zellen, unser Blut in Resonanz gehen zu dem Gesang dieses wundersamen Mädchens.

Neben mir sitzt ein etwas dicklicher Jüngling in Outdoorkleidung und auf einmal öffnet er den Mund und singt mit. Nein, er singt nicht mit, er schwingt sich ein in den Klang. Wie von alleine öffnen sich meine Lippen, ich hole Luft und schwinge mich ebenso dazu, und nach und nach schwingen alle sich ein, und wie ein stürmischer Wind ertönt die Melodie nun aus all unseren Kehlen. Das Wort Corona ist kaum noch zu verstehen, aber wir alle, wir wissen es. Es ist mehr als ein Wissen, es ist eine Gewissheit, die keinerlei Gedanken bedarf. Wir alle sind da, ganz da, und doch nicht. Unser Geist wird weit, löst sich auf, schwingt sich ebenso in den Gesang.

Irgendwann wird es leiser. Und leiser. Nach und nach hören alle auf, mitzusingen, sondern lauschen nur noch dem Gesang der anderen. Die Bäume am Rand der Lichtung zittern nicht mehr,  auch sie scheinen nicht mehr im Sog zu stehen, der sich wie ein müder Wind nur noch ein paarmal um sich selbst dreht, bis auch er ganz verstummt.

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier gesessen haben, aber es muss ein paar Stunden her sein. Denn die Sonne ist hinter den Baumwipfeln verschwunden und es ist merklich kühler geworden. Ich ziehe meinen Jackenkragen etwas höher und schaue auf die Lichtung. Es ist immer noch die gleiche Lichtung, die Bäume sind grau und tot. Aber irgendetwas hat sich verändert. Ich kann es mehr spüren als sehen, es ist als wäre die Luft dichter geworden, lebendiger, ja, als gäbe es immer wieder kleine Funken, die wie ein Feuerwerk auseinanderplatzen und Licht dabei herstellen.

Zwei Mädchen, die in der Nähe der Jäger sitzen, stehen wortlos auf, streichen sich ein paar Äste von den Hosen und schauen sie uns alle an. Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken verabschieden sie sich von uns. Es folgt das schwarz gekleidete Pärchen, die alte Frau mit dem Korb, sie alle stehen einfach auf, schauen sich um und gehen ohne ein Wort. Ich bleibe sitzen. Ein paar Zweige knacken, als die letzten verschwinden, doch auch das wird immer leiser und ich bleibe zurück mit dem Mädchen, das jetzt nur noch leise vor sich hin summt.

 

 

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